1

 

Die Geschichten, die guten Geschichten, die aufregenden und die, die das Herz berühren, jene, die es wirklich lohnt anzuhören – wo kommen sie her? Wie könnte es anders sein: natürlich aus der Vergangenheit! Es sind die alten Geschichten, aus einer Zeit, als alles neu war und man selbst noch jung. Denn die Jugend ist ein ambivalentes Geschenk, von dem der Beschenkte nicht weiß, daß es ihm überhaupt zuteil wurde, geschweige denn daß es zu guten Geschichten taugt. Die Jugend – man weiß sie erst viel, viel später zu schätzen. Doch dann ist es zu spät. Und zurück bleiben nur die alten Geschichten.

»Wie wurdest du so, wie du jetzt bist, Paps?« wollte Junior wissen.

»Du meinst, uralt?«

Ich befühlte mit der Zunge den fabrikneuen, linken Reißzahn aus Kunststoff, den mir der Zahnarzt erst am vorigen Tage unter Vollnarkose eingesetzt hatte. Der echte war mir während eines Kampfes mit einer fetten Ratte im Garten einfach so abgefallen. Ich hatte gestutzt, das Hauen und Stechen kurz unterbrochen und blöd auf das gute Stück geglotzt, das nun blutbefleckt im Nacken des Widersachers wie eine Nadel im Kissen steckte. Die Ratte hatte ebenfalls blöd geglotzt, konnte es sich jedoch in ihrer Ratteneinfalt nicht verkneifen, ein Hohnlachen auf ihr spitznasiges Rattengesicht zu zaubern. Mir war nichts anderes übriggeblieben, als in meiner Trauer über das verlustiggegangene Teil ihre Gurgel einfach mit einer Kralle aufzuschlitzen. Danach lachte sie nicht mehr. Vielleicht war ich also doch nicht so alt, wie ich glaubte.

Es war der dritte Advent, und draußen ums Haus blies ein eisiger Wind, in den sich allmählich die ersten Schneeflocken mischten. Doch wir hier drinnen hatten es nicht nur warm und behaglich, sondern wir hatten viel mehr als das, nämlich uns! »Wir hier drinnen«, das waren mein neunmalschlauer Sohn Junior, der die anstrengende Angewohnheit besaß, alles genau wissen zu wollen, meine geliebte Sancta, ein Mitbringsel aus Rom, die mich auf meine alten Tage auf den rechten Pfad der Monogamie zurückgebracht hatte, mein bester Freund Blaubart, dessen Alter wie bei dieser einen ägyptischen Mumie wohl nur noch ein Computer-Kernspintomograph zu diagnostizieren vermag, und meine Wenigkeit. Wir alle lagen zu später Stunde Flanke an Flanke auf dem Schaffell vor dem Kamin. Der Flammenschein der brennenden Holzscheite, die einzige Lichtquelle im Raum, tauchte unsere Samthaar-Gesichter in ein rötliches Zwielicht.

Nun ja, natürlich befand sich noch einer im Wohnzimmer, oder besser gesagt, er nahm es ein. In einem von uns gelegentlich als Kratzbaum benutzten, zerfurchten alten Ledersessel hinter unseren Rücken schnarchte Gustav immerhin leise vor sich hin. Sein Elefantenschädel bedeckte fast die gesamte Kopfstütze, seine hundertundfünfzig Kilo ließen die Konstruktion unter ihnen ächzen, wenn er sich in seinem Dämmerzustand bewegte. Von was er wohl träumte? Doch vermutlich träumte er gar nicht, sondern genoß es einfach, daß er es auf seine alten Tage doch noch zu etwas gebracht hatte. Er war ein inzwischen weltweit anerkannter Archäologe, dessen Schriften über versunkene Reiche ihm von den angesehensten Institutionen förmlich aus den Händen gerissen wurden. Und was hatten diese Hände all die Jahre nicht alles anstellen müssen, um uns beide über die Runden zu bringen: »Kurzromane« für Frauen jenseits der Menopause schreiben (»Gisela – geschändet und um die Rente betrogen!«), Telefonate während einsamer Nachtwachen in Call-Centern entgegennehmen (»... wenn Sie uns statt einem drei Särge der Güteklasse C abnehmen, bekommen Sie einen vorgravierten Grabstein mit der Inschrift ›Hier liegen meine Gebeine/Ich wünschte, es wären deine‹ gratis ...«), oder ganz emsig die Computertastatur bedienen und gegen ein Entgelt von fünf Euro medizinische Ratschläge absondern (»... ich verstehe, Sie haben also Diabetes, Bluthochdruck, Panikattacken und Fußpilz – haben Sie es schon mit Aspirin versucht?«).

Diese entbehrungsreichen Zeiten lagen aber schon weit hinter uns, und Gustav und ich genossen das saturierte Dasein eines Akademikerpaares mit den üblichen Wonnen. Renovierter Altbau mit honigfarbenen Holzdielen, klassische Musik am Abend im Kerzenschein, wobei er sich geistlos an seinem Mozart erfreute, wogegen ich mich mehr an Benjamin Britten orientierte, er wie immer an seiner Flasche Chablis nuckelnd und ich mich wie gewöhnlich an meinem Evian aus dem Wassernapf berauschend. Aber es wurde auch hart gearbeitet in dieser Wohnung. Gustav hockte die meiste Zeit, und wie mir vorkam immer verbissener, über den Zeugnissen aus der alten Welt und versuchte daraus Erkenntnisse für unsere neue zu destillieren.

Dies bedeutete natürlich keineswegs, daß ein Mensch mit dem Erscheinen eines Zeppelins und der Alltagstauglichkeit einer mathematischen Formel vermittels bescheidenen Wohlstands automatisch zu einem souveränen Wesen mutiert wäre. Mitnichten! Immer noch brachte es mein bemitleidenswerter Dosenöffner fertig, auf der Jagd nach einer debilen Mücke die Fliegenklatsche so ungeschickt zu schwingen, daß er sich bei der Aktion mindestens einen Knochen brach. Immer noch ähnelte seine Meinung über die Weibchen seiner Spezies der eines Lords aus der viktorianischen Epoche, was mangels Entsprechungen in der Realität zwangsläufig seine Dauer-Unbeweibtheit zementierte. Und immer noch kochte er in solchen Mengen, als erwarteten wir stets eine vierzehnköpfige Großfamilie aus der Ukraine zu Besuch. Sein Leibesumfang und die Bodenbalken der Wohnung strebten unabwendbar einer Katastrophe entgegen – und ich als geflissentlicher Resteverwerter in ästhetischer Hinsicht nicht minder.

Nichtsdestotrotz war und blieb er mein Gustav: ein exzellenter Lakai (ohne sich dessen bewußt zu sein), ein getreuer Streichelroboter, für dessen Aktivierung ich nicht mehr als zwei Mimiken der Niedlichkeit vorzutäuschen brauchte, und ein ewiges Studienobjekt der Narreteien des menschlichen Seins. Ich möchte hierbei nicht unterschlagen, daß er inzwischen auch die Anwesenheit meines »Anhangs« in der Wohnung akzeptierte. Soweit zu den Komplimenten. Er nervte mich trotzdem ungeheuer. Aber wie der Dichter schon sagt: Erst kommt das Fressen und dann ...

Nicht nur Gustav, auch ich arbeitete oft bis an die Grenzen der Belastbarkeit. Thema Vögel: Wir gelten als hervorragende Jäger dieser Spezies. Zeugt es da nicht von Weisheit, ja schierer Erleuchtung, daß ich auf meine alten Tage zum Ornithologen geworden war? Im Frühling, wenn diese ihren Schiß aus luftiger Höhe ausklinkenden Kreaturen die Bäume zu bevölkern pflegten, war normalerweise meine große Zeit gewesen. Wie oft war ich früher regungs- und lautlos stundenlang hinter einem Gebüsch gehockt, um ein Spatzenhirn bei einem Fehltritt am Boden zu überraschen und es dazu zu überreden, daß es mir als Snack dienen möge. Bis mir unlängst die Lebensklugheit, mehr jedoch meine ehrfurchtgebietende Körperfülle zu der Einsicht verhalf, daß derartige Überraschungs-Sprints schöpfungsphilosophisch und politisch völlig unkorrekt waren. Und so begnügte ich mich damit, die Spatzenhirne nur anzuglotzen und ihnen alles Gute für ihre hirnlose Fortpflanzung zu wünschen. Nun ja, so einiges, was einen altersmilde werden läßt, hat unmittelbar mit Übergewicht und Knochenbeschwerden zu tun.

Was ich sonst noch so tat? Jede Menge! Ich wurde Experte darin, am Geräusch des Öffnens der Futter-Aluminiumschalen durch Gustavs Hand zu erraten, um welche Fleischsorte es sich bei dem Inhalt handelte. Die Zusammensetzung der jeweiligen Soßen sorgte nämlich für einen stets andersgearteten Plop-Effekt. Ach ja, und dann schaute ich der Sonne zu. Wie sie aufging und wie sie wieder unterging. Zwischen dem fast ganztägigen Dösen, meine ich. Faszinierend, so viele Farben! Das war mir früher gar nicht aufgefallen. Zwischendurch kam Archie uns besuchen, Gustavs bester Freund, der ein Stockwerk über uns wohnte. Der ehemalige Trendsetter war inzwischen ebenfalls gealtert, besaß eine Beinahe-Glatze und sehr hübsche Herrentitten. Armer Kerl. Dem Trendsetten war er auf seine Art treu geblieben: Er lebte von den Verkäufen irgendwelcher obskurer Güter auf Ebay. Unter anderem verscherbelte er einen beeindruckend bunten Jesus Christus als Kerze.

Wie gesagt, wir alle arbeiteten sehr hart. Aber Spaß beiseite, etwas hatte sich selbst in meinem vorgerückten Alter Gott sei Dank nicht geändert, nämlich die Sache, was die einfältig grinsende Ratte betraf. Denn hätten mir meine Instinkte irgendwann nahegelegt, nicht mehr vom Genozid des Nagervolks zu träumen, dann wäre ich nicht nur alt, sondern im sprichwörtlichen Sinne schon mausetot.

Ich erinnere mich an eine Zeit, da war das Leben – neu! Alles und jedes diente gleichsam als elektrischer Impuls für etwas über alle Maßen Aufregendes, sowohl im angenehmen als auch im schmerzlichen Sinne. Doch darum ging es nicht. Es ging um die glühende Verheißung, um das Versprechen dessen, was man noch erleben wollte und bisweilen auch angenehm oder schmerzlich erlebte. Wobei wir beim Thema wären.

»Wie wurdest du so, wie du jetzt bist, Paps?« wollte Junior wissen.

»Du meinst, uralt?«

»Nein. Ich meine, wie du alt wurdest, weiß ich ja schon. Wenn mich nicht alles täuscht, ganz von selbst.«

»Du hast es erraten, Klugscheißer!«

Aus den Augenwinkeln registrierte ich, daß Sancta bereits im tiefen Schlummer lag. Sie hatte sich eng an mich geschmiegt, meine göttliche Korat, und ihr zufriedenes Atmen verriet mir, daß sie wohl wieder von ihrer geliebten Heimat träumte: Italien – Rom – Forum Romanum. Auf den abgebrochenen Säulen dieses Geisterreichs hatte ich sie kennen- und liebengelernt. Und kaum zu glauben, ich hatte es mit Hilfe grotesker Gestikulationen sogar geschafft, daß selbst ein so begriffsstutziger Pottwal wie Gustav meine Bitte um die Heimholung der Braut kapierte. Nun, römisches, gar ein antikes Ambiente konnte ich ihr in unserem Gründerzeit-Viertel nicht bieten. Aber dafür all die Liebe, die in einem alten Lappen wie mir steckte. Und ein überdimensioniertes Labyrinth an Gärten hinter den im Karree angeordneten Altbauten.

Ich weiß, was jetzt kommt: Daß der alte Sack sich wie alle alten Säcke mit gewissem Wohlstand ein junges Modell zugelegt hatte. Was soll ich sagen – es stimmt! Die Korat soll ihren Namen nach der thailändischen Provinz Korat erhalten haben, wo sie von König Rama V. gezüchtet wurde. In ihrem Ursprungsland gilt sie als Glücksbringer. Und Glück hatte Sancta mir weiß Gott gebracht mit ihrem wunderschönen, silberblau schimmernden Fell, dem herzförmigen Kopf und den leuchtend grünen Augen. Okay, ich hätte ihr Uropa sein können. Doch erstens spielt bei unserer Rasse der Altersunterschied zwischen den Geschlechtern keine Rolle (Ausrede aller Uropas mit dem nötigen Kleingeld), und zweitens war ich ihr gegenüber im buchstäblichen Sinne ein sehr lieber Uropa.

Meine süße Sancta ruhte also am Bauch ihres Sugar-Daddys und gab solch liebenswürdige Seufzer von sich, daß ich ihr am liebsten auch noch im Traum begegnet wäre. Gustav schnarchte leise in seinem voluminösen Sessel und ließ sich den Globusbauch vom Kaminfeuer erwärmen. Und Blaubart, mein buntgescheckter, fast zahnloser alter Freund, nun ja, vielleicht war er schon tot. Jedenfalls sah er mit allen von sich gestreckten vieren, seinen mannigfaltigen Verstümmelungen im Ohr- und Schwanzbereich und der halb geöffneten, von etlichen Narben übersäten Schnauze so aus. Das hieß, er sah so aus wie immer. Junior jedoch war hellwach und hatte nichts anderes im Sinn, als mich mit seinen blöden Fragen zu piesacken. Das Privileg der Jugend ist es unter anderem, daß sie selber nicht merkt, wie ungemein sie ihrer Umgebung auf den Geist geht.

»Mich interessiert, wie du zu diesem sagenhaften Ruf eines Meisterdetektivs gekommen bist. Mich würde der Anfang interessieren, Paps.«

Zwei leicht schräge grüne Diamantenaugen glotzten mich aus einer schwarzweißen Fellexplosion an, als wäre ich das achte Weltwunder. Mein schöner Sohn wirkte irgendwie, als sei er vom Friseur eines Königshofes toupiert worden. Manchmal, wenn ich ihn mir so ansah, schimmerte aus ihm die Erscheinung seiner seligen Mutter hervor. Die verwuselte Eleganz, die schier leuchtende, hellrosa Haut an der Nase, den Ohrenspitzen und an den Fußballen und ein so scharfer Blick, daß man meinte, von einem Gedankenlesegerät gescannt zu werden. Ich erinnerte mich an sie, an den Zauber jenes sonnigen Nachmittages, an die wunderbaren Eruptionen der Liebe, an jene magischen Augenblicke, als Junior gezeugt wurde. O ja, auch ich war in Arkadien gewesen.

»Der Anfang, er liegt lange zurück«, sagte ich und gähnte in die allmählich ermüdende Glut des Kaminfeuers hinein. Eigentlich wollte ich so schnell wie möglich dem Weg meiner Freunde in das Traumland folgen. Statt dessen mußte ich hier Rede und Antwort stehen, als säße ich vor einem Soziologieprofessor, der eine gescheiterte Existenz studiert. »Und übrigens, das mit dem Meisterdetektiv würde ich selbst nie in den Mund nehmen.«

»Weil Eigenlob stinkt?«

»Nein. Weil ich das erste Verbrechen, in das ich zufällig hineingeraten war, nicht vollständig lösen konnte.«

»Ach, davon hat mir ja noch niemand erzählt. Ist auch egal. Wenn nur die Hälfte deiner glorreichen Taten, die sich hier im Revier herumgesprochen haben, wahr ist, dann gehörst du in die Kategorie Meisterdetektiv.«

Ich seufzte, wandte mich von Junior ab und vergrub den Kopf halb zwischen den Fusseln des Schaffells. »Vielleicht. Es ist nur so, daß am Anfang das Versagen stand. Und gleichgültig, wie alt du auch sein wirst, mein Junge, ein Versagen in der Jugend wird dich immer mehr fuchsen als eins im hohen Alter.«

»So ein Quatsch!« sagte Junior im heiteren Tonfall. »Du bist mein Held und bleibst es auch. Selbst wenn du Anno Tobak den Diebstahl einer Flasche Milch nicht hast aufklären können.«

»Es ist nicht um den Diebstahl von einer Flasche Milch gegangen.«

»Worum ging es denn?«

»Um den Weltfrieden.«

»Tja, wenn das so ist, dann frage ich noch einmal: Wie wurdest du so, wie du jetzt bist, Paps?«

»Strapaziös«, sagte ich. Der Glutschein aus dem Kamin hatte unsere Gesichter inzwischen vollends in ein tiefes Purpurrot getaucht, so daß die eigentlichen Fellfarben neutralisiert waren. Hinter den Fensterscheiben wirbelten die Schneeflocken immer dichter, und das leise Seufzen der Schlafenden in dem ansonsten völlig dunklen Raum war wie ein leiser, einlullender Gesang, der mich in jene dunkle und doch vom aufgehenden Licht meines jungen Lebens beschienene Zeit entführte.

»Leicht hatte ich es eigentlich nie«, begann ich meine Erzählung. »Doch wie brutal ich von meiner Mutter und meinen geliebten Geschwistern auseinandergerissen wurde, das habe ich bis heute nicht richtig verkraftet. Wir hingen zwar nicht mehr an ihren Zitzen, aber ...«